Samstag, 5. Mai 2012

Argentinien und der Eurokolonialismus





(zas, 22.4.-5.5.12) Vor einigen Tagen schrieb der argentinische Linksintellektuelle Atilio Borón in seiner Glosse „España, ¿cuál España?“ (Spanien, welches Spanien?), die virulenten Reaktionen  hoher spanischer Regierungsverantwortlicher „zeigen, dass  […] diese FunktionärInnen der Krone das Ergebnis der Schlacht von Ayacucho [Peru] immer noch nicht wahrgenommen haben, die 1824 die Zertrümmerung der Reste des spanischen Imperiums in dieser Weltgegend besiegelt hatte. Sowohl ihre Selbstinszenierung – von Wut verhärtete Gesichter, hochtrabende Phrasen, Mahnfinger von [Aussenminister] García-Margallo – wie der bedrohliche Gehalt ihrer Erklärungen, vor allem jene dieses Méndez de Vigo [Staatssekretär für die EU], der sagte, Argentinien werde sich in einen ‚internationalen Aussätzigen’ verwandeln und ‚extrem schlechte Konsequenzen’ zu tragen haben, falls die Interessen von Repsol-YPF beeinträchtigt würden, erinnern daran, dass leider die schlimmsten Traditionen des spanischen Kolonialismus fortleben“.

Nach der am 16. April 2012 von der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner eingeleiteten Teilnationalisierung der Filiale YPF des Erdölkonzerns Repsol – im „öffentlichen Interesse“, wie sie betonte - tobte in den spanischen Regierungskreisen und Offizialmedien ein Sturm der Entrüstung. Sofern von „Argumenten“ gegen die argentinische Massnahme überhaupt die Rede sein kann, beschränken sich diese in der Regel darauf, die den Schritt auslösenden Energieversorgungsprobleme der argentinischen Wirtschaft auf staatliche Inkompetenz und Interventionismusgelüste zurückzuführen. Geht es „raffinierter“ zu, werden ein paar Lügen der Repsolführung über ihre angeblich gigantischen Investitionen in Argentinien zirkuliert, deren Ausbleiben nun jenes Land teuer zu stehen kommen werde.

Verlautbarungen aus Madrid und Brüssel lassen die Möglichkeit eines veritablen Handelskrieges gegen Argentinien erkennen, wobei noch unklar ist, was dabei Getöse ist, was realer Angriff. Der Sukkurs der PSOE-Führung und der spanischen Gewerkschaftverbände CC.OO. und UGT für die Regierung Rajoy gegen die relative Entprivatisierung der YPF spricht Bände über den kolonial-imperialen Konsens in Spanien (Página 12, 17.4.12), gegen den sich umgekehrt die Izquierda Unida oder die Bewegung der Indignad@s wenden. Und am 22. April 2012 stimmten die Fraktionen des Europaparlaments einem Aufuf an die EU-Kommission zu, als Repressalie für den „Rechtsbruch“ höhere Schutzzölle auf argentinischen Importen zu erheben. Mit dabei: die sozialdemokratische Fraktion. Einzig die Linken und erstaunlicherweise die Grünen verweigerten die Komplizenschaft.

Betrügerische Lehrmeister
Besonders reizvoll ist die Pose des spanischen Wirtschaftslehrmeisters, wonach Präsidentin Cristina Fernández die Teilnationalisierung nur als durchsichtige Massnahme zur Ablenkung von den angeblich katastrophalen wirtschaftlichen Zuständen im Land veranlasst habe. Repsol-CEO Antonio Brufau hatte es vorgekäut: Die argentinische Regierung wolle mit der YPF-Enteignung „die soziale und wirtschaftliche Krise verdecken“ (El País, 17.4.12). Nur: Wenn wer bestrebt ist, mit extrem chauvinistischen Tiraden von enormen Wirtschaftsproblemen bzw. vom entfesselten Sozialangriff  abzulenken, dann die europäischen Machtzentralen. Während Argentiniens Wirtschaft weiter wächst, hört man bezüglich dieses Allerheiligsten der kapitalistischen Wirtschaft aus Madrid und Brüssels gar nichts dergleichen. Die jetzt laufend servierten Untergangsprophezeiungen für die argentinische Wirtschaft verweisen vielleicht auf anstehende internationale “Strafsaktionen“ gegen Buenos Aires und repetieren ansonsten die Beschwörungsformeln, die der Mainstream seit dem argentinischen Zahlungsdefault 2002, dem Rauswurf des IWF und der 2005 vom damaligen Präsidenten Néstor Kirchner verfügten Umschuldung von sich gibt. Nur geht es genau wegen dieser Politik mit der argentinischen Wirtschaft aufwärts, in normal kapitalistischen Wachstumsbegriffen gesprochen. Im Gegensatz zur ganzen, mit der Militärdiktatur der 70er Jahre begonnenen Periode der IWF-geleiteten industriellen Zerstörung zuvor. In deren Verlauf wurde 1992 die Privatisierung des Flagschiffs der argentinischen Industriepolitik, des staatlichen Öl- und Gasunternehmens YPF, unter Regie der Investmentbanken Merril Lynch (heute Teil von Bank of America) und First Boston (danach von der CS übernommen) eingeleitet und 1999 mit seiner Veräusserung an die Repsol abgeschlossen. Die Privatisierung war dem Schema X gefolgt: Merrill Lynch setzte die argentinischen Ölreserven um 30 Prozent zu tief an, ein unmittelbar nach der Geschäftsabwicklung korrigierter „Irrtum“.

Einige Fakten
Letztes Jahr verdoppelte sich die Zahlung Argentiniens für Öl- und Gasimporte auf $ 9 Mrd., da Repsol-YPF trotz gegenteiliger, in „unseren“ Medien natürlich brav weiterverbreiteten Lügen kaum in die Erschliessung neuer Öl- und Gasfelder investiert hatte. Vor der Privatisierung von YPF, erklärte der Ökonom Mariano Barrera in der argentinischen Tageszeitung „Página 12“, „hat die staatliche YPF auf ein Total von 117 Bohrlöchern jährlich ungefähr 80 neue Probebohrungen gemacht; Repsol dagegen im Schnitt nur acht pro Jahr. Da sie wenig explorieren und die alten Bohrstationen weiter ausbeuten, sinkt natürlich die Produktion“ (Página 12, 18.4.12). In einem anderen Artikel vom gleichen Tag zitiert das Blatt Vizewirtschaftsminister Axel Kicillof: Repsol-CEO „Brufau legte eine systematische Haltung des Boykotts der lokalen Gas- und Ölförderung an den Tag. Wie machte er das? Er forderte, dass er autorisiert werde, im Land zu internationalen Preisen zu verkaufen. Mit andern Worten, er beklagte sich über die internen Preise. Sie drehten den Hahn zu und provozierten so eine Unterversorgung. Dadurch zwangen sie die Regierung, Treibstoffe zu importieren, die sie dann im Land zu einem geringerem Preis als dem internationalen, aber zu einem höheren als dem Referenzpreis, an den sie sich halten sollten, verkauften“.

Argentinien erhält als Strafe für seine auf einer etwas souveräneren Politik basierenden floriernden Wirtschaft so gut wie keine internationalen Finanzkredite bzw. nur zu prohibitiven Zinsen. (Offenbar „floriert“ die argentinische Wirtschaft mit ihrer Reduktion der Arbeitslosigkeit nicht marktoptimal.) Seine Importe berappt das Land aus seinen Handelsüberschüssen, die jetzt mit den Ölimporten beinahe neutralisiert werden. Derweil repatriierte Repsol-YPF nach Angaben des argentinischen Sozialwissenschaftlers Julio Gambino 97 Prozent der Gewinne, um so die Verluste am spanischen Krisenmarkt auszugleichen. Im Krisenjahr 2002, als hungernde argentinische Kinder Rattenfleisch assen, transferierte Repsol-YPF einen Gewinn von $1 Mrd. ins Mutterhaus, die Hälfte des Gesamtprofites jenes Jahres (Rebelión, 18.4.12). Dieselbe Quelle stützt sich bei der Angabe, dass allein die von Repsol-YPF in den letzten Jahren getätigten Preissteigerungen auf Öl und Gas die ArgentinierInnen insgesamt $4.6 Mrd. gekostet haben, auf die Defensoría del Pueblo de la Nación. Gleichzeitig führte Repsol bloss 12 Prozent Lizenzgebühren an den Staat ab! Präsidentin Cristina Fernández ihrerseits hatte angeführt, dass Repsol zwischen 1999 und 2011 in Argentinien einen Gewinn von über $16 Mrd. gemacht habe, wovon über $13 Mrd. als Dividenden ausgeschüttet worden seien (Página 12, 16.4.12). Alles provisorische Angaben: Repsol, an der nicht-spanische Investitionsfonds 42 Prozent und die mexikanische Pemex weitere 9 Prozent halten, pflegt ihre Finanzströme über diverse Steuerparadiese abzuwickeln. Repsol-YPF hatte sich bis zu ihrer Teilverstaatlichung der Regierung beharrlich über die realen Förder- und Exportmengen ausgeschwiegen. Schon nach einer ersten Durchsicht der Geschäftszahlen sprach der argentinische Vizewirtschaftsminister Axel Kicillof von „unvorsichtigen Zahlen über den Unternehmenswert, die überprüft werden müssen. Diesen Bereich von überbewerteten Aktiven und unterbewerteten Passiven können wir erst jetzt analysieren“ (La Página 12, 18.4.12).


Gründe für das Toben
Man hätte meinen können, man habe sich in den Kapitalzitadellen in den letzten zehn Jahren ein wenig an eine etwas souveränere Rohstoffpolitik in Lateinamerika gewöhnt. Weit gefehlt! Das jetzige spanisch-europäische Geschrei belehrt uns eines besseren. Dabei ist die Massnahme von Cristina Fernández äusserst gemässigt! Sie enteignet nicht einfach, sondern gegen eine auf der Basis des realen Geschäftsgangs auszuhandelnde Entschädigung. Und sie enteignet nur den zentralen Faktor, der einer staatlich-nationalen Entwicklung der Wirtschaft diametral entgegenstand. So dass jetzt der argentinische Staat (Zentralregierung und Ölprovinzen) 51 Prozent an YPF und Repsol bloss noch 7 Prozent halten. Weitere 17 Prozent werden an den Börsen gehandelt. Die argentinische Familie Eskenazi besitzt 25 der YPF-Aktien. Mit der Teilnationalisierung übernahm die argentinische Regierung sofort die Geschäftsleitung und entzog der ursprünglich von Repsol und Néstor Kirchner an YPF-Bord geholten Eskenazi-Gruppe das Management.

Diese hatte sich ihren 25-Prozent-Anteil an YPF fast vollständig durch Milliardenkredite von Repsol und internationalen Banken, darunter der CS, ergattert. Beim Deal wurde festgehalten, dass der allergrösste Teil des Betriebsgewinnes in die Dividenden fliessen würde (soviel zu den „milliardenschweren“ Explorationsinvestionen von Repsol). Der Multi war mit der argentinischen Privatbeteiligung einverstanden, weil er von der Regierung von Néstor Kirchner das Recht erhalten hatte, die Preise im Inland zu verteuern. Aus den Dividenden würde die Familie Eskenazi ihre Schulden begleichen. Doch jetzt hält das Teilenteignungsdekret ausdrücklich fest, dass die Gewinne im Rahmen einer souveränen Wirtschafts- und Entwicklungspolitik grossmehrheitlich in Exploration und Förderung fliessen sollen. Drohende Konsequenz: Die verbleibenden Schulden der Eskenazis von $2.8 Mrd. werden unbezahlbar, Repsol, die CS etc. bleiben auf ihren Forderungen hocken. (Am 21. März hatte das Repsol-YPF-Direktorium zwar beschlossen, die Dividenden für 2011 mehrheitlich nicht auszuzahlen, sondern in die Kapitalisierung des Betriebs zu stecken. Das feierten damals die spanischen Medien als enormes Entgegenkommen des Multi in dem seit letzten Oktober offen ausgebrochenen Streit mit der Regierung Fernández. Blödsinn: Das Geld ging nicht in die Produktion und damit Behebung der Energieprobleme der argentinischen Wirtschaft, sondern steigerte den Börsenwert des Unternehmens.)

YPF war die goldene Kuh von Repsol. Mit der Teilnationalisierung verliert das in Spanien domizilierte Unternehmen die Hälfte seiner Produktion und „seiner“ Reserven. Das betrifft auch die an sich riesigen Schieferöl- und gasvorkommen der Vaca Muerta, die doch „immense Geschäftsmöglichkeiten eröffnet“ haben, wie El Pais am 16.4.12 wehklagt. Die Börsenwerte von Repsol brachen folgerichtig seit der Teilnationalisierung massiv ein, was die krisengeschüttelte Caixa-Bank und Repsol-Grossaktionärin kaum freuen wird. Der Börseneinbruch dürfte diese Nationalisierung wesentlich von anderen im Lateinamerika der letzten Jahre abheben.

Kaum zufällig stehen die Reserven der Vaca Muerta im Zentrum der Debatte. Insgesamt verfügt Argentinien über 12 Prozent der globalen nicht-konventionellen Gas- und Erdölvorkommen, (Página 12, 18.4.12).  Diese wolle sich die argentinische Regierung jetzt „holen“ (id.), argumentierte Repsol-CEP Brufau, wo doch das Unternehmen enorme, Investitionen insbesondere in die Entdeckung der Vaca Muerta getätigt habe (die allerdings nie spezifiziert werden). Die Beschreibung, wie Cristina Fernández die Repsol um „ihr“ Eigentum bringen will, gehört zum Muss einer jeden „seriösen“ Fallanalyse im Medienmainstream. Doch das ist Quatsch, wie die Expertin Mariana Matranga im gleichen Artikel erläutert: „Im Vergleich zu den für die reale Förderung dieser Reserven nötigen Investitionen ist das, was Repsol in der Vaca Muerta getätigt hat, unbedeutend. Tatsächlich kannte man die Existenz dieser nicht-konventionellen Ressorucen seit langem. Konventionelle Reserven befinden sich unterhalb der Vaca Muerta, so dass den dort arbeitenden Ingenieuren die Präsenz nicht-konventioneller Reserven bestens bekannt war. Es ist der technologische Fortschritt der letzten Jahre, der die Vorstellung ermöglicht, dass die Förderung dieser Reserven ökonomisch sinnvoll sein könnte“. Statt als goldene Kuh entpuppt sich jetzt die Vaca Muerta für Repsol eben als tote Kuh, und wohl weniger - wegen jetzt angeblich ausbleibenden internationalen Investitionen - für die argentinische Regierung, wie das die meisten KorrespondentInnen gerne hätten.

Ein weiterer Grund für den transnationalen Ärger dürfte schlicht in der Tatsache liegen, dass für ein Mal ein Hauch der „Strenge des Gesetzes“ feine Geschäftsherren streifte. Noch während Cristina, wie die Präsidentin im Land meist genannt wird, die Intervention von YPF ankündigte, übernahmen RegierungsbeamtInnen die Geschäftszentrale, wurden die YPF-Telefonleitungen wurden für einige Stunden gekappt und die betrieblichen Email-Konti gesperrt. Am Montag, dem 16. April 2012, „durchlebten wir“, so die erschütternde Klage eines ehemaligen YPF-Bosses in El País vom 22.4.12, „sehr angespannte Momente, Momente, in denen es keinem der beiden [Kader] erlaubt war, mit seiner Familie zu kommunizieren. Sie wurden vom neuen Geschäftskader befragt, dem aber das Notdekret staatliche Autorität zugestand. Und am Dienstag mussten sie erneut in den Betrieb für weitere Verhöre. Am folgenden Tag entschieden wir, nach mehreren Jahren Aufenthalt in Argentinien, dass das Vernünftigste sei, fortzugehen. Wir gingen über Uruguay. Es ist nicht einfach, innert weniger Stunden ein ganzes Leben zurückzulassen, aber es schien uns das Vernünftigste“. Man denke – die Herren wurden zu ihrer Geschäftspolitik verhört! Wegen ein paar Milliarden! „El País“ ist derart entsetzt, dass die simple Frage, ob eventuell andere Motive als Seelenschock die Manager zur Flucht Hals über Kopf bewegten, gar nicht aufkommt.

„Argentinien zwingen, ein normales Land zu sein“
Vor diesem Hintergrund sind aggressiven Äusserungen von Repsol, der spanischen Regierung, der EU und ihrer Medien zu situieren. Am 17. April gab der spanische Premier Rajoy am Lateinamerika-Treffen des WEF in Mexiko die Stossrichtung an, als er von einem „schwerwiegenden Präzedenzfall“ sprach, dem die Strafe auf dem Fuss zu folgen habe: „Die wirksamste Sanktion in dieser globalisierten Welt, in der Ersparnis und Investitionen mit einem Tippen auf die Tastatur transferiert werden, besteht darin, das Vertrauen der Welt der Investoren zu verlieren“ (Página 12, 17.4.12). Machtträume. CEO Brufau prophetisch: „Diese Akte [die Teilnationalisierung] werden nicht ungestraft bleiben“ (El País, 17.4.12).  Unter dem Titel „Die Regierung erklärt die Freundschaft mit Argentinien als gebrochen und bereitet Repressalien vor“ zitiert das gleiche Blatt einen Tag später Rajoy mit der Aussage: „Dort, wo es ein spanisches Unternehmen gibt, dort wird die spanische Regierung seine Interessen als die eigenen verteidigen“. Und wieder einen Tag später fängt das Blatt einen Artikel mit diesen Worten an: „Die europäische Offensive gegen Argentinien nimmt Gestalt an“. Und zitiert auch den Vizepräsidenten der EU-Kommission, Atonio Tajani: „Unsere Rechtsdienste studieren, zusammen mit Spanien, die zu ergreifenden Massnahmen. Keine Option ist ausgeschlossen“. Gemeint, so das Blatt: Etwa eine EU-Klage vor der WTO, die Erhebung von Strafzöllen (wie sie das Europäische Parlament wünscht) oder die Streichung der EU-Meistbegünstigungsklausel, wie das spanische Handelministerium suggeriert. Am 19. April macht „El País“ mit den Worten von CEO-Brufau klar, worum es gehe, nämlich um die „Normalisierung“ Argentiniens: „Man kann viele Massnahmen ergreifen, um Argentinien zu zwingen, ein normales Land zu sein […]Ich sollte sagen: die argentinische Regierung. Leider hat Argentinen eine Regierung, die es nicht verdient, das Land zu lenken“. Letzten Oktober hatte Cristina Fernández einen Kanterwahlsieg erzielt, dessen Gehalt Repsol nun zu „normalisieren“ sucht. EU-Handelskommissar Karel de Gucht drohte: Argentinien werde „die Konsequenzen für seine eigene ökonomische Entwicklung noch während Jahren spüren“ (Página 12, 25.4.12). Was den argentinischen Innenminister zur Bemerkung veranlasste, das Land werde die Konsequenzen nicht erleiden, sondern „geniessen“ (id.).

Kein Wunder, lassen sich da auch unsere NZZ-Schreiber zu Höhenflügen ermuntern: Der eine sieht Gefahr für „ noch verbliebene ausländische Investoren“, nämlich,“ dass sie in die Fänge Kirchners“ geraten könnten (NZZ, 20.4.12). Ein anderer brilliert anlässlich eines Berichtes über die Unctad-Konferenz in Katar so: „Die Versuche des argentinischen Vertreters, die Verstaatlichung zu rechtfertigen, überzeugten kaum jemanden.“ Und wer ist die grosse Mehrheit? Ja mei, ist das aber klar, fährt der Scharfdenker fort: „Im Rahmen einer Veranstaltung, an der die International Chamber of Commerce – eine weltweite Lobby der Unternehmer – neue Richtlinien für internationale Investitionen vorstellte, sagte Nestlé-Konzernchef Peter Brabeck klar, solche Entscheide würden das Investitionsklima alles andere als verbessern.“(NZZ, 23.4.12). Ein Korrespondent des Tages-Anzeigers kommt zur Sache: „Umfragen zufolge sind bis zu 90 Prozent der Bevölkerung mit dem Handstreich einverstanden. Direkt in die Fernsehkameras blickend, sagte Fernández: «Ich bin Staatspräsidentin, keine Ganovin!» Die übrige Welt sieht dies anders“ (TA, 21.4.12). Auch er brilliert, wenn er uns die „übrige Welt“ näher bringt: Zwei erzreaktionäre argentinische Blätter („La Nación“ und „Clarín“), das „Wall Street Journal“, den kolumbianischen Staatspräsidenten und die Weltbank.

Grossmaul und Fiesheit
Vielleicht hat sich die spanische Regierung sich mit ihrem Kolonialgehabe etwas übernommen. Denn konkret steht bisher nur eines fest: Spanien importiert statt argentinischem teureren europäischen Agrodiesel. Damit kann Buenos Aires problemlos leben. Rajoy scheint unterdessen den Rückwärtsgang eingeschaltet zu haben. Er meinte: „Spanien erwägt alle Möglichkeiten, die Argentinien an den Verhandlungstisch zurückbringen können. Es geht darum, eine Verhandlungslösung zu finden“ (Página 12, 24.4.12). Gemeint: Repsol erhält als Entschädigung die geforderten $10.5 Mrd. Diesen Preis allerdings dürfte Buenos Aires kaum schlucken. Ansonsten will Spanien an das internationale Investorengericht der Weltbank gelangen, das ICSID oder spanisch CIADI (s. „Diktatur der Multis“ aus Correos 144, Dez. 2005). Das Problem mit diesem Vorschlag: Dafür müsste Repsol erst den argentinischen Justizweg einschlagen; bis zu einem allfälligen ICSID-Entscheid könnten Jahre mit einer sehr ungewissen Zukunft für Repsol vergehen. Möglich ist etwa auch eine EU-Klage mit ungewissem Ausgang in der WTO (mit irgendwann einmal drohenden Schutzzöllen gegen Argentinien). Wenig Chancen scheint die Idee der Aufhebung der EU-Meistbegünstigungsklausel für Argentinien zu haben. Fies ist, dass die EU trotz Drängen von Madrid und ihrem Parlament von der Linie abgekommen ist, Argentinien von den Verhandlungen mit dem Mercosur über einen Freihandelsvertrag auszuschliessen. Brüssel hatte für diesen Schwenker gute Gründe: Mit dem Vertrag will die EU den Mercosur mit Industriegütern und Dienstleistungen erobern und im Gegenzug die Einfuhren von südamerikanischen Primärprodukten etwas verbilligen. An diesem Schema kann nicht die boomende argentinische, wohl aber die darbende europäische Autoindustrie Gefallen haben. Dennoch ist Vorsicht angesagt: Das von Rajoy und Repsol angestrebte Verhandlungsdiktat – eine neue goldene Nase für den Multi – stösst in Buenos Aires auf wenig Gegenliebe. Und neben wirtschaftlichen Erpressungen kann einem etwas souveräner auftretenden Argentinien auch anderes drohen. Nicht vergebens hat Madrid mehrmals erwähnt, dass das südamerikanische Land nach der YPF-Teilnationalisierung  in Sachen Malvinen-Inseln nun erst recht nicht mehr auf Sukkurs gegen London zählen dürfe. Beim Streit um diese Kolonialinseln des britischen Königsreichs, der 1982 in einen Krieg ausgeartet war, geht es heute um die Aneignung riesiger Brennstoffreserven unter Wasser.

Wem nützt die Sache?
Anlässlich der Rückführung einer YPF-Mehrheit in Staatseigentum betonte Präsidentin Fernández, dass der Konzern weiterhin eine AG mit privater Beteiligung bleibe. Vorbild stelle die brasilianische Petrobras dar. Möglicherweise rücken für die Eskenazi-Familie andere argentinische Kapitalgruppen oder ausländische Multis nach. Selbst eine volle Verstaatlichung der YPF würde nur 30 Prozent der landesweiten Gas- und Ölförderung betreffen.  Ähnliche Verhältnisse wie bei Repsol-YPF existieren in anderen strategischen Sektoren wie etwa den Minen. Der peronistisch-nationalistische Jubel im Land ist also mindestens voreilig. Die Frage ist, ob diesem ersten Schritt weitere folgen oder nicht. Claudio Katz von argentinischen LinksökonomInnen EDI etwa hält eine Vollnationalisierung von YPF für unumgänglich, soll nicht im alten Schema weitergefahren werden. Zum Vergleich mit der brasilianischen Petrobras sagt er, deren privat-staatliches Modell „erlebte keine Verschrottung à la YPF. Ich glaube, es herrscht eine etwas idyllische Vorstellung bezüglich dessen vor, was ein gemischtes Unternehmen machen kann. Denn da gibt es Privatkapital und das wird stets Gewinne einfordern. Vergessen wir nicht, dass wir vor vielen Jahren des Wiederaufbaus der Exploration stehen, um das neue Öl zu finden, das das vergeudete ersetzen soll. Das setzt ein staatliches Unternehmen voraus, das ein Gleichgewicht zwischen Exploration und Förderung ermöglicht, das nicht unter dem Gesichtspunkt unmittelbaren Profits operiert. Wenn es Unternehmenskapital an den Börsen gibt, haben wir private Gruppen, die Geld machen wollen“ (Rebelión, 30.4.12). Neben der Vollnationalisierung brauche es auch weitere Staatseingriffe z.B. in anderen Ölfördersektoren und zentralen Wirtschaftsbereichen, wie Katz verschiedenenorts betonte. Er wie auch der im gleichen Rebelión-Interview befragte Julio Gambina sehen in der Teilnationalisierung einen unbezweifelbar positiven ersten Schritt, warnen aber auch davor, zuviel Hoffnung auf die Regierungsequippe der Präsidentin zu setzen, die in den Wirtschaftsbereichen weitgehend von Kadern geleitet würde, die in den 1990er Jahren die Privatisierung der staatlichen Unternehmen mitverantwortet haben. Gambina bringt eine weitere, zentrale Fragestellung ein: Das Teilnationalisierung- „Projekt sagt, Argentinien müsse die Selbstversorgung wiedererlangen, und die Mehrheitstendenz sagt, das sei positiv. Ich frage mich jetzt aber: Wenn es soweit käme, zu wessen Nutzen? Ist der argentinische Wagenpark nötig? Sollen wir weiter Autos produzieren oder nicht Eisenbahnen? Soll Argentinien auch in Zukunft diese Menge Öl für die an der Sojaisierung und der Monokultur orientierte Agrarproduktion verbrauchen oder soll es einen produktiven Plan entwerfen, der unter anderem die Familienlandwirtschaft, die Respektierung der Allmendproduktion und die Ausweitung diversifizierter Kulturen anstösst? Der also die Ernährungssouveränität und nicht den Profit der grossen Biotech- und Nahrungsmultis privilegiert, wie es konkret der Fall ist bei der Sojaisierung. Braucht Argentinien seine Ölproduktion für eine Montageindustrie? Argentinien als produktive Tieflohnplattform für den Export? Wozu haben wir die Autoindustriefilialen, wenn sie nicht für den inneren Markt produzieren? […] Ich rede von der Autoindustrie, da sie paradigmatisch ist. Sie verbraucht den Grossteil des Öls.

Dass, bleibt es beim jetzigen Schritt der Teilnationalisierung, es nicht weit her sein wird mit den erhofften positiven Veränderungen, ist klar. Es ist ein erster, unabdingbarer Schritt. Im Gegensatz zu einigen Sekten in Argentinien, die diesen ersten Schritt bekämpfen, da unzureichend, sollte dafür gekämpft werden, dass ein zweiter, ein dritter Schritt erfolge. In die von Katz und Gambino angegebene Richtung hin zur Infragestellung des dominierenden Wirtschaftsmodells. Für uns aber stellen sich erst mal andere Prioritäten: dem tosenden Eurokolonialismus entgegen zu treten.